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Beitrag vom 19.09.2013
Der Geschmack von Apfelkernen. Ein Film mit Hannah Herzsprung, Meret Becker, Marie Bäumer, Paula Beer u.a. Kinostart 26. September 2013
Julia Lorenz
Ein altes Haus in der norddeutschen Provinz vereint die Geschichten dreier Frauengenerationen auf der Suche nach dem perfekten Lebensentwurf, der eigenen Vergangenheit und der Antwort auf die...
...Frage, wie aus einem zerrissenen ein "ganzer Mensch" werden kann.
Den Arbeitstitel "Das Buch vom Vergessen" musste Autorin Katharina Hagena vor Veröffentlichung ihres Romans verwerfen: Milan Kundera und sein "Buch vom Lachen und Vergessen" waren ihr drei Jahrzehnte zuvorgekommen, sodass das Werk schließlich unter "Der Geschmack von Apfelkernen" publiziert wurde. Dabei ist Hagenas Romandebut vor allem ein Buch vom Erinnern: An die Schönheit und Schrecken der Kindheit, an die Unschuld und ihren Verlust.
Die achtundzwanzigjährige Protagonistin Iris (Hannah Herzsprung) wird zum Erinnern gezwungen: Nach dem Tod ihrer Großmutter Bertha (Hildegard Schmahl) erbt die junge Frau das Haus ihrer Familie in Norddeutschland - ein verwunschenes, dunkles Anwesen, für Iris Sehnsuchtsort und Belastung zugleich. Während des Aufenthalts in ihrer Heimat will sie sich darüber bewusst werden, ob sie das Erbe annehmen soll. Iris streift durch die alten Räume und den verwilderten Garten, in dem sie sich den Mutproben ihrer Cousine Rosemarie (Paula Beer) und deren besten Freundin Mira (Zoe Moore) stellen musste. Sie findet Vertrautes, Verdrängtes und ihren Sandkastenfeind Max (Florian Stetter), dem sie im Verlauf ihrer Vergangenheits-Expedition näher kommt - und sieht sich schließlich mit der schmerzhaftesten Erinnerung konfrontiert: Dem plötzlichen, frühen Tod Rosemaries.
Sowohl Katharina Hagenas erfolgreiche Romanvorlage als auch Vivian Naefes Adaption ist das, was den Werken Pedro Almodóvars allerorts bescheinigt wird: Eine Hommage an die Frauen.
Am Werdegang der Protagonistinnen können exemplarisch die Herausforderungen dreier (Frauen-)Generationen nachvollzogen werden: Bertha, geboren zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, leidet zeitlebens unter der Entscheidung, den falschen Mann geheiratet zu haben. An Scheidung ist im konservativen Umfeld ihrer Zeit jedoch nicht zu denken. Ihre unabhängige Tochter Inga (Marie Bäumer) hingegen entschließt sich, lieber alleinstehend zu bleiben, als eine Vernunftsehe einzugehen, und stößt dabei auf viel Unverständnis. Rosemarie und Mira, Kinder der dritten Generation, verzweifeln auf der Suche nach ihrer sexuellen Orientierung.
Vivian Naefe und Produzentin Uschi Reich beweisen mit der Besetzung viel Verständnis für Hagenas Charaktere. Neben etablierten Kinogrößen wie Hannah Herzsprung, Meret Becker und Marie Bäumer beeindruckt vor allem die achtzehnjährige Paula Beer, bekannt aus Chris Kraus´ "Poll", mit einer vielschichtigen Interpretation: Ihre Rosemarie ist größenwahnsinnig, intrigant und in jeder Hinsicht extrem - dabei trotzdem so haltlos, dass mensch nachvollziehen kann, warum sie es sich selbst und anderen so schwer macht. Irgendwie.
Während Beers verstörende Darstellung auf die nahende Tragödie verweist, huldigt Neefs Inszenierung der tröstlichen Wärme von Kindheitserinnerungen: Sinnlichkeit und die Visualisierung von Gerüchen und Geschmäckern sind ihr wichtiger als ästhetische Innovationen. Obwohl Vintage-Farben, Landhausidylle und Inga-Lindström-taugliche Naturaufnahmen die Kitsch-Antennen ausfahren lassen, fügen sie sich ins nostalgische Gesamtkonzept. In einer Szene fährt Iris im bodenlangen, goldenen Kleid ihrer Cousine in den Baumarkt - und wirkt in ihrer antiquierten Schönheit im "wirklichen Leben" ebenso aus der Zeit gefallen, wie sie sich angesichts ihrer Reise in die Kindheit fühlen muss.
Die Grenze zur ARD-Vorabend-Romanze wird jedoch mit der vorhersehbaren, als tollpatschige Screwball-Komödie inszenierten Liebesgeschichte zwischen Iris und Max überschritten, die ihre Funktion als erhellendes Moment inmitten dunkler Vergangenheitsbewältigung nicht wirklich erfüllt, sondern vor allem nervt. Nicht zuletzt, weil Iris´ sympathische Unsicherheit in Max´ Gegenwart in einen linkischen Teengirl-Habitus kippt, der dem sonst so reflektierten Charakter nicht gerecht wird. Ein Vorwurf, der sicherlich nicht nur dem Film, sondern auch der Romanvorlage gemacht werden kann. Schade ist es trotzdem: Ein Ensemble derart interessanter Figuren hat Schema-F-Plattitüden nicht nötig.
AVIVA-Fazit: Kann mensch nur "ganz" sein, wenn er/sie die eigene Vergangenheit akzeptiert - und sich erinnert? Eine große Frage für zwei Kinostunden, der sich Vivian Naefe nach dem Vorbild US-amerikanischer Familien-Epen annehmen wollte. Die Regisseurin inszeniert Katharina Hagenas Saga stimmig und kleidet den magischen Realismus der Romanvorlage in melancholisch-schöne Bilder. Dennoch verirrt sich die Inszenierung streckenweise in allzu seichte Gewässer - und opfert dadurch das Potential der Charaktere und ihrer Schicksale der Gefälligkeit.
Zur Regisseurin: Vivian Naefe wurde 1953 in Hamburg geboren. Zu Beginn ihrer Berufskarriere war sie als Filmkritikerin für die Münchner Abendzeitung tätig und moderierte die Sendung "Kino Kino". Ihr Studium an der Münchner Hochschule für Film und Fernsehen schloss sie 1983 mit der Komödie "Zuckerhut". Es folgten zahlreiche Fernseh- und Kinofilme, darunter die "Wilde Hühner"-Reihe. 2001 erhielt Naefe den Bayerischen Fernsehpreis für eine "Tatort"-Folge und den Adolf-Grimme-Preis für das Ruhrpott-Drama "Einer geht noch". Seit 1998 ist sie Gastdozentin an den Filmhochschulen in Ludwigsburg, München und an der Universität Mainz.
Weitere Infos: www.imdb.com
Der Geschmack von Apfelkernen
Deutschland 2012
Filmlänge: 121 Minuten
Regie: Vivian Naefe
DarstellerInnen: Hannah Herzsprung, Florian Stetter, Marie Bäumer, Meret Becker, Hildegard Schmahl, Paula Beer, Zoe Moore, Matthias Habich, Friedrich Mücke, Hans Kremer, Oda Thormeyer u.a.
Drehbuch: Rochus Hahn, Uschi Reich, basierend auf einem Roman von Katharina Hagena
Produzentin: Uschi Reich
Kamera: Martin Langer
Szenenbild: Thomas Freudenthal
Kostüme: Gabriela Reumer
Verleih: Concorde Filmverleih
Kinostart: 26. September 2013
Der Film im Netz: www.geschmackvonapfelkernen-derfilm.de
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